zum Lesen

Da bekam meine Mutter einen Brief von Onkel Franz, welcher ein pensionierter Major war. Und sie sagte, daß sie recht froh ist, weil der Onkel schrieb, er will schon einen ordentlichen Menschen aus mir machen, und es kostet achtzig Mark im Monat. Dann mußte ich in die Stadt, wo Onkel wohnte. Das war sehr traurig. Es war über vier Stiegen, und es waren lauter hohe Häuser herum und kein Garten. Ich durfte nie spielen, und es war überhaupt niemand da. Bloß der Onkel Franz und die Tante Anna, welche den ganzen Tag herumgingen und achtgaben, daß nichts passierte. Aber der Onkel war so streng zu mir und sagte immer, wenn er mich sah: "Warte nur, du Lausbub, ich krieg dich schon noch."
Vom Fenster aus konnte man auf die Straße hinunterspucken, und es klatschte furchtbar, wenn es danebenging. Aber wenn man die Leute traf, schauten sie zornig herum und schimpften abscheulich. Da habe ich oft gelacht, aber sonst war es gar nicht lustig.
Der Professor mochte mich nicht leiden, weil er sagte, daß ich einen sehr schlechten Ruf mitgebracht hatte. Es war aber nicht wahr, denn das schlechte Zeugnis war bloß deswegen, weil ich der Frau Rektor ein Brausepulver in den Nachthafen getan hatte.
Das war aber schon lang, und der Professor hätte mich nicht so zu schinden brauchen. Der Onkel Franz hat ihn gut gekannt und ist oft hingegangen zu ihm. Dann haben sie ausgemacht, wie sie mich alle zwei erwischen können.
Wenn ich von der Schule heimkam, mußte ich mich gleich wieder hinsetzen und die Aufgaben machen. Der Onkel schaute mir immer zu und sagte: "Machst du es wieder recht dumm? Wart nur, du Lausbub, ich komm dir schon noch."
Einmal mußte ich eine Arithmetikaufgabe machen. Die brachte ich nicht zusammen, und da fragte ich den Onkel, weil er zu meiner Mutter gesagt hatte, daß er mir nachhelfen will. Und die Tante hat auch gesagt, daß der Onkel so gescheit ist und daß ich viel lernen kann bei ihm.
Deswegen habe ich ihn gebeten, daß er mir hilft, und er hat sie dann gelesen und gesagt: "Kannst du schon wieder nichts, du nichtsnutziger Lausbub? Das ist doch ganz leicht."
Und dann hat er sich hingesetzt und hat es probiert. Es ging aber gar nicht schnell. Er rechnete den ganzen Nachmittag, und wie ich ihn fragte, ob er es noch nicht fertig hat, schimpfte er mich fürchterlich und war sehr grob. Erst vor dem Essen brachte er mir die Rechnung und sagte: "Jetzt kannst du es abschreiben; es war doch ganz leicht, aber ich habe noch etwas anderes tun müssen, du Dummkopf."
Ich habe es abgeschrieben und dem Professor gegeben. Am Donnerstag kam die Aufgabe heraus, und ich meinte, daß ich einen Einser kriege. Es war aber wieder ein Vierer, und das ganze Blatt war rot, und der Professor sagte: "So eine dumme Rechnung kann bloß ein Esel machen."
"Das war mein Onkel", sagte ich, "der hat es gemacht, und ich habe es bloß abgeschrieben."
Die ganze Klasse hat gelacht, und der Professor wurde aber rot. "Du bist ein gemeiner Lügner", sagte er," und du wirst noch im Zuchthaus enden." Dann sperrte er mich zwei Stunden ein. Der Onkel wartete schon auf mich, weil er mich durchhaute, wenn ich eingesperrt war. Ich schrie aber gleich, daß er schuld ist, weil er die Rechnung so falsch gemacht hat, und daß der Professor gesagt hat, so was kann bloß ein Esel machen.
Da haute er mich erst recht durch, und dann ging er fort. Der Greither Heinrich, mein Freund, hat ihn gesehen, wie er auf der Straße mit dem Professor gegangen ist und wie sie immer stehenblieben und der Onkel recht eifrig geredet hat.
Am nächsten Tag hat mich der Professor aufgerufen und sagte: "Ich habe deine Rechnung noch einmal durchgelesen; sie ist ganz richtig, aber nach einer alten Methode, welche es nicht mehr gibt. Es schadet dir aber nichts, daß du eingesperrt warst, weil du es eigentlich immer verdienst, und weil du beim Abschreiben Fehler gemacht hast."
Das haben sie miteinander ausgemacht, denn der Onkel sagte gleich, wie ich heimkam: "Ich habe mit deinem Professor gesprochen. Die Rechnung war schon gut, aber du hast beim Abschreiben nicht aufgepaßt, du Lausbub."
Ich habe schon aufgepaßt, es war nur ganz falsch.
Aber meine Mutter schrieb mir, daß ihr der Onkel geschrieben hat, daß er mir nicht mehr nachhelfen kann, weil ich die einfachsten Rechnungen nicht abschreiben kann und weil er dadurch in Verlegenheit kommt.
Das ist ein gemeiner Mensch.
Silvester - Ein Abgesang
Silvester, das letzte Aufbäumen. Der Tag, der dafür gemacht wurde, hintenraus alles schön zu reden, die Vorsätze, das Geschehene, sogar die Beziehung. Zeit zum Reflektieren und zum Abgewöhnen. Die Welt ganz oben, die Welt ganz unten - und ich mittendrin.
Mein Name ist Hagen, und ich stehe auf dem Balkon der Wohnung eines Typen namens Axel, der sich schon lange verabschiedet hat und in seinem Zimmer schläft, während sich in den anderen Räumlichkeiten ballermannartige Szenen abspielen. Und ich bin mit einer Frau hier, die nicht neben mir steht, sondern im Wohnzimmer sitzt und lacht.
Sie heißt Denise Chiara Herzog. Der Zweitname war die Idee ihres Vaters gewesen, einem Hardcore-Italien- Urlauber, der seine Familie seit zwanzig Jahren an den Gardasee schleift, von den Kellnern im Hotel per Handschlag begrüßt wird und den Zustand bereut, dass er nicht als Italiener geboren wurde, sich in Deutschland jedoch vorwiegend von Sauerkraut und Schweinshaxen ernährt. Der einmal im Jahr zu einem aalglatten Lebemann mutiert, nur noch Wein trinkt und in gebrochenem Italienisch Carpaccio bestellt, das er im Zitronensaft ertränkt und innerhalb weniger Minuten in sich hineinschlingt, als wären es die letzten Reste Rindfleisch auf Erden. Aber das tut nichts zur Sache, denn vielmehr geht es um seine Tochter. Denise Chiara und ich schlafen regelmäßig miteinander. Obwohl ich ihr gleich zu Beginn klar und deutlich gesagt habe, dass es mir nur ums Körperliche geht, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mehr will. Damals war sie einverstanden gewesen und meinte, es ginge ihr auch nur um Sex und sollten Gefühle aufkommen, würde sie es beenden. Das klang für mich nach dem Deal des Tages oder dem Samstagskracher, wie man in der Konsumbranche sagen würde. Doch nach und nach veränderte sich ihr Verhalten. Die Menge an WhatsApp-Nachrichten nahm zu. Auf einmal wollte sie auch abseits des Beischlafs Unternehmungen starten: etwas trinken gehen, Kino, und so weiter. Wir hatten vorgestern erst darüber gesprochen, und sie versicherte mir erneut, dass sie keine Gefühle für mich hatte. Ich solle mich nicht so wichtig nehmen, hatte sie gesagt. Ich glaube ihr nicht. Seit einer Stunde sitzt Denise Chiara im Wohnzimmer und quatscht mit Ben, einem muskelbepackten Schönling, der zwei Jahre älter ist als sie. Leider merkt man ihm das nicht an. Aber Denise Chiara scheint er zu gefallen. Sie will mich testen, denke ich, wie ich draußen in der Kälte stehe und rauche.
Im Grunde sind Beziehungen, egal ob aus Liebe oder sexueller Begierde geführt, ja immer Tests. Irgendwann bekommt man ein Zwischenzeugnis und dann entscheidet sich, ob es weitergeht oder nicht. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie herzhaft lacht, wenn dieser halbseidene Kerl etwas erzählt, was mit Sicherheit nicht witzig ist, und beobachte ihn, wie er immer näher an sie heranrutscht.
Peinlich ist das. Da mache ich nicht mit. Da scheiß ich drauf. Genau wie auf Silvester. Das ist doch nichts als Kommerz. Ich stehe also auf dem Balkon, schaue in die Sterne und rauche eine Winston Blue. Winston Blue, so wurde mir erzählt, ist die Nachfolger Marke von F6-Blue, meiner großen Tabakliebe, die leider abgesetzt wurde.
Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber ich klammere mich an den Gedanken. Denn mir wurde vieles, was ich liebte, genommen, nicht nur die Zigaretten.
Der Milchmann - von Peter Bichsel
Der Milchmann schrieb auf einen Zettel: "Heute keine Butter mehr, leider." Frau Blum las den Zettel und rechnete zusammen, schüttelte den Kopf und rechnete noch einmal, dann schrieb sie: "Zwei Liter, 100 Gramm Butter, Sie hatten gestern keine Butter und berechneten sie mir gleichwohl."
Am andern Tag schrieb der Milchmann: "Entschuldigung."
Der Milchmann kommt morgens um vier, Frau Blum kennt ihn nicht, man sollte ihn kennen, denkt sie oft, man sollte einmal um vier aufstehen, um ihn kennenzulernen. Frau Blum fürchtet, der Milchmann könnte ihr böse sein, der Milchmann könnte schlecht denken von ihr, ihr Topf ist verbeult.
Der Milchmann kennt den verbeulten Topf, es ist der von Frau Blum, sie nimmt meistens 2 Liter und 100 Gramm Butter. Der Milchmann kennt Frau Blum. Würde man ihn nach ihr fragen, würde er sagen: "Frau Blum nimmt 2 Liter und 100 Gramm, sie hat einen verbeulten Topf und eine gut lesbare Schrift." Der Milchmann macht sich keine Gedanken, Frau Blum macht keine Schulden. Und wenn es vorkommt - es kann ja
vorkommen - dass 10 Rappen zu wenig daliegen, dann schreibt er auf einen Zettel: "10 Rappen zu wenig." Am andern Tag hat er die 10 Rappen anstandslos und auf dem Zettelsteht: "Entschuldigung." 'Nicht der Rede Wert' oder 'keine Ursache', denkt dann der Milchmann und würde er es auf den Zettel schreiben, dann wäre das schon ein Briefwechsel. Er schreibt es nicht.
Den Milchmann interessiert es nicht, in welchem Stock Frau Blum wohnt, der Topf steht unten an der Treppe. Er macht sich keine Gedanken, wenn er nicht dort steht. In der ersten Mannschaft spielte einmal ein Blum, den kannte der Milchmann, und der hatte abstehende Ohren. Vielleicht hat Frau Blum abstehende Ohren. Milchmänner haben unappetitlich saubere Hände, rosig, plump und verwaschen. Frau Blum denkt daran, wenn sie seine Zettel sieht. Hoffentlich hat er die 10 Rappen gefunden. Frau Blum möchte nicht, dass der Milchmann schlecht von ihr denkt, auch möchte sie nicht, dass er mit der Nachbarin ins Gespräch käme. Aber niemand kennt den Milchmann, in unserm Quartier niemand. Bei uns kommt er morgens um vier. Der Milchmann ist einer von denen, die ihre Pflicht tun. Wer morgens um vier die Milch bringt, tut seine Pflicht, täglich, sonntags und werktags.
Wahrscheinlich sind Milchmänner nicht gut bezahlt und wahrscheinlich fehlt
ihnen oft Geld bei der Abrechnung. Die Milchmänner haben keine Schuld
daran, dass die Milch teurer wird. Und eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann gern kennenlernen.
Der Milchmann kennt Frau Blum, sie nimmt 2 Liter und 100 Gramm und
hat einen verbeulten Topf.
Verbockt
"Schon wieder verbockt", spricht mein Lehrer zwischen den Zähnen
heraus gequetscht zu meinem Aufsatz mit dem Thema 'FREMD IM EIGENEN
LAND' aus. Und ich habe mir so Mühe gegeben. Beschrieben, wie ich an
der Hand meines kleinen Bruders durch den Wald schreite und unvermutet
eine Lichtung finde, aus der helles Licht strahlt, ich mich darüber
wundere. Mitten in der gleissenden Helligkeit erblicke ich eine Leiter
die in den Himmel steigt. Und ich und mein Bruder werden von einem
Glücksgefühl gepackt, der Wald ängstigt uns nicht mehr, wir sind von
einer Sicherheit erfasst die ich noch nie erlebt habe. Auch nicht die
Einsamkeit, die Stille, das Alleinsein bedroht uns. Vergessen alle
Sorgen ...
"Ein verbockter Aufsatz ist das!", spricht mein Lehrer aus. Fährt
fort: "Ich habe der Klasse nicht den Auftrag erteilt Märchen
nachzuerzählen, sondern jeden von euch gebeten über die eigene
Situation zu berichten. Wie und ob ihr dieses Fremdheitsgefühl im
eigenen Land erfahren habt. Je erlebt habt. Und du was für einen Unsinn
bringst zu Papier. Unseriös ist das ein Märchen zu erzählen. Mir an
den Kopf zu werfen. Wolltest du mich damit verhunzen. Mir indirekt
zeigen, dass ich von meinen Schülern Märchen erwarte da ich ein
Märchenonkel sei. Bürschchen das lasse ich nicht durchgehen. Das wird
im Zeugnis seinen Niederschlag und zwar nicht als Regen, nein, als
Hagel finden. Da kannst du dich darauf gefasst machen."
Absolut verstört höre ich ihm zu. An und für sich ist er ein
passabler Kerl. Hat grosse Kenntnisse. Lehrt uns viel. Ist ein Beispiel
in Literaturkenntnis für uns alle. Weshalb er auf Märchen, die in
meinen Auge keine sind, auf alte Mythen sich beziehen, wie auf der
Lichtung die Jakobsleiter, allergisch reagiert ist mir ein Rätsel. Nun
sind Zeitreisen, so nehme ich an, nicht seine Stärke, weiss
möglicherweise nicht, dass solche möglich sind. Dass Menschen, die
viele Leben hinter sich haben, durchaus solche erleben können, wie ich
beim Bericht über mein Erlebnis im Wald. Da kann ich dem Schelter
keinen Vorwurf anhängen. Nein, ich muss einsehen, ihm zugestehen, dass
er hier, es handelt sich bei mehreren gelebten Leben nicht um Literatur,
keinen schlechten Willen zeigt. Drei Wochen später, die Festtage sind
vergangen, die Schule hat im neuen Jahr begonnen, ruft mich unser
Deutschlehrer in der Pause zu seinem Katheter im leeren Klassenzimmer.
Räuspert sich umständlich. Setzt zum Sprechen an. Seine Worte aber
versickern zuerst in seiner Luft- dann in der Speiseröhre. Räuspert
sich erneut. Beginnt ganz leise zu flüstern. Ich vernehme ihn kaum.
Einzelne Worte werden von ihm mit Tarnkappen versehen.
Unzusammenhängende Sätze entwischen zaghaft seiner Zunge: "Traum ... An
Deiner Hand ...Bruder ... Leiter ... Jakob ... Erinnere...". Und ein breites
Lächeln huscht über sein Gesicht. Von Frieden erfüllt streicht er über
mein Haar.
Ich entdecke eine dicke Träne an seinem linken Augenlid. Sie weigert sich der Schwerkraft anheimzufallen.
Eine Trauer- oder Glücksträne? Das ist eine Frage, die mich meine gesamten Lebenserfahrungen begleiten wird.
Talisman
Wie beneide ich Menschen die einen Talisman besitzen. Einen der sie
schützt. Vor Ungemach bewahrt. Im Gemach. Und ausserhalb. Wenn ich nur
den Weg kennen würde wie ich zu meinem kommen könnte. Wie ich meinen
geschenkt erhalten würde. Suche seit Jahren danach. Hätte diesen so
unbedingt nötig. Denn was mir im Laufe eines Jahres an Ungemach
geschieht ist nicht zu ertragen. Ich verliere. Vergesse. Übersehe.
Erleide. Vereinsame. Kann gar nicht aufzählen was alles mit mir
geschieht. Was alles schief äuft. Obwohl ich mich weit entfernt von der
schiefen Bahn befinde. Trotzdem ich häufig mit der Bahn zu fahren habe.
Hätte ich nur einen Talisman wie meine Freundinnen und Freunde einen
besitzen. Um den Hals tragen. In der Hosentasche sich damit begleiten
lassen. In der Brieftasche. Am Handgelenk umschlungen mit sich führen.
Am Fussknöchel, oder gar versteckt an geheimen Orten. Und wenn ich die
Geschichten höre wie sie dazu gekommen sind werde ich so neidisch, dass
ich kein Wort mehr über die Lippen bringe. Oder wenn, dann nur
Halbwörter. Heisere Halbwahrheiten. Muss endlich Lösungen finden.
Lösungen um mein Elend zu beenden. Experten befragen. Weisheiten über
Talismane abschöpfen. Wie den Rahm ab der stehenden Milch. Mich dann
daran delektieren. Sitze nun bereits den ganzen lieben langen Sonntag an
der Sonne. Überlege wo meine Rettung liegen kann. Im Himmel? Die Wolken
vollführen Spiele. Bewegen sich aufeinander zu, berühren sich. Lösen
sich auf. Bilden sich neu. Und jetzt, ich traue meinen Augen nicht,
entsteht ein filigranes Wolkenbild das die Form eines Fragezeichens
annimmt. Soll ich es wagen? Die Wolke befragen. Was wenn sie mir keine
Antwort erteilt? Stumm bleibt. Oder einen falschen Rat erteilt. Ich auf
den Wolkenholzweg gelange. Mich von meinem Talisman entferne. Diesen in
den Weltraum, ja ins Universum befördere. Nie mehr einholen kann. Ich
wage es! Stelle mit stummer Lippensprache die Frage nach meinem
Talisman. Das Fragezeichen wandelt sich. In ein schlichtes n. Talismann?
Ja, den muss ich finden. Er wird mich vor Ungemach bewahren. Wolkige
Sprache ist mehr als goldwert!
Doch, so frage ich mich um gerecht zu bleiben, wo bleibt die Talismannin?
Der Herzchillfaktor
Was da alles heutzutage gemessen wird! Erstaunlich! Von der
Pulsfrequenz bis zum Schritte zählen das dann in Tageswochen und Jahres
Kilometerzahlen oder wenn erwünscht in Meilen umgerechnet wird. Kalorien
werden berechnet. Blutdruck errechnet. Rasendes Herzstolpern
nachgewiesen. Tautropfen pro Morgenerguss festgehalten. Windstärke,
Wellenhöhe, Flut und Ebbe angezeigt, sogar diejenige im Geldbeutel,
sofern nicht vollständig ausgetrocknet. Temperaturen in Celsius oder
Fahrenheit samt Umrechnungsformeln und der Einfluss des Winds auf
Letztere in sogenannten Wind-Chillfaktoren festgelegt. Aktienkurse,
Indizes, Teuerungsprozente je Tagesminuten angegeben. Eine Fülle der
Technik! Bewundernswert. Den ganzen lieben langen Tag könnte ich mit all
den Angaben verbringen. Selbst meine Laune kann ich mir anzeigen
lassen, die je mehr mich mit diesen Nennungen beschäftigte in
sogenannten internationalen Humeures gemessen zum Besten als
Entschuldigung für mitmenschliches Verhalten ausgedruckt und direkt auf
gewünschte und unerwünschte Smartphones gesendet werden. Und täglich
kommt Neues, Zusätzliches per App-Express, dazu hat man sich einmal
abonniert.
Und heute nun blinkte und piepste mein iPad besonders heftig, was ein
Zeichen, so war mir beim ersten Einloggen erläutert worden, für eine
epochale Masseinheit von ausserordentlicher Bedeutung, die keinesfalls
verpasst werden dürfe, bedeute.
In bunten Farben wurde der HERZCHILLFAKTOR die neueste Applikation
vorgestellt. Diese dürfe nicht übersprungen werden. Sie sei während der
nächsten drei Stunden kostenlos. Daneben lief eine Rückwärtsuhr. Schön
regelmässig. Die Sekunden und Minuten schmolzen wie Schnee an der Sonne
oder Eis in kochendem Wasser. Meine von den Eltern antrainierte Vorsicht
und Skepsis dachte an Malware, an Viren, die sich in meinen Rechnern
breitmachen, diesen mit allen mir so lieb gewordenen Daten zerstören
wollten. Ein Kampf spielte sich in meinem Hirn ab. Die Gelegenheit der
neuen App wahrnehmen? Ablehnen? Doch die in meinem Unterleib wütende
Neugier verlangte mit einer mir bislang unbekannten Heftigkeit die
Gelegenheit wahrzunehmen. Zuzugreifen. Endlich zu wissen, was es mit dem
HERZCHILLFAKTOR auf sich habe. Dabei zu sein, wenn neue versprochene
Dimensionen auch mir eröffnet werden sollten. So wurde meine Skepsis in
die Sepsis-Hirnkammer abgedrängt und ich bewegte mit zitterndem
eiskaltem Zeigefinger den Cursor auf W E I T E R, was eine weitere
Farbsymphonie auslöste und den Text hervorrief, ob ich bereit sei, alle
Cookies bedingungslos anzunehmen.
Worauf nach einem weiteren Blick auf den Bildschirm ein gewaltiges
Hirngewitter entstand, das bis in den Unterleib in mein Neugier-Zentrum
ausstrahlte und das Wort BEDINGUNGSLOS tausendfach mit kaum zu zählenden
Fragezeichen zierte.
Mein Zeigefinger kreiste, als sei er ein jagender Adler oder besser
bezeichnet Geier um den Rückwärtspfeil in der Kopfzeile, wurde aber wie
durch ein Magnetfeld daran gehindert, diesen zu berühren. Viel mehr
verlagerte er sich auf das Wort ANNEHMEN, das einen süssen
Gummibärchensauergeruch verströmte, sodass mein Finger, dem
zwischenzeitlich ein echter Mund mit zwei dicken Lippen sowie eine Zunge
gewachsen waren, nicht anders konnte als zuzustimmen. Die Skepsis in
der Sepsis-Hirnkammer liess dies einen markerschütternden Schrei
entlocken, der durch eine gezielte Abwehrrakete meiner Neugierde zum
augenblicklichen Schweigen gezwungen wurde.
Nun wurde ich aufgefordert, in meinem Postfach die App zu aktivieren.
'Letzte Möglichkeit, Dich aus dem Staub zu machen', rief die Skepsis mit
heller, erschöpfter Stimme meinem Finger zu, dem nichts Besseres
einfiel als dieser in ihrem Gefängnis Schmorenden die neu gewachsene
Zunge auszustrecken, sie als Feigling zu titulieren und zudem hämisch zu
lachen, dabei die Lippen bis weit über den Fingernagel zu stülpen. Die
ihr zwischenzeitlich gewachsenen Milchzähne dabei Lautfingerhals zu
fletschen!
Mein frei laufendes glückliches Neugier-Zentrum nun wollte wissen, was es mit dem HERZCHILLFAKTOR auf sich habe.
Von Stunde an und noch heute nach zwei gefühlten Jahren, dem
Zeigefinger sind dabei graue und weisse Nasenhaare gewachsen, wird mir
bei jedem Tweet bei jedem Facebookeintrag bei jeder
Social-Media-Aktivität bei jeder Mail angezeigt, auch wenn diese noch so
herzlichst verfasst sind, wie kalt und herzlos die neue Welt der Social
Media oft daherkommt. Mein Zeigefinger sehnt sich nach sozialer Wärme,
huldigt seitdem der Sepsis-Kammer in meinem Hirn. Kann diese jedoch
nicht öffnen, findet den dazugehörigen Code nicht, da dieser absichtlich
nie gespeichert wurde.
Ins Netz gegangen
Die Meereswellen rauschen. Obwohl Ebbe herrscht. Wie wird es erst sein wenn die Flut einsetzt. Und das an diesem Vollmondtag. Ohrbetäubend. Davon gehe ich aus. Flut! Verjagt dann, so meine Hoffnung, die Ebbe die seit Jahren in meinem Geldbeutel herrscht. Muss mich mit Sammeln von Muscheln, Pfandflaschen und Steinen mit ausserordentlichen Formen, besonders beliebt bei japanischen Touristen, über Wasser halten. Fein, dass mein Freund der Souvenirhändler mir faire Preise anbietet. Also, verstehen Sie mich richtig, nicht bei den Pfandflaschen, dort liegt nichts drin, wie er mir immer wieder versichert, aber bei den Coquillagen und den Pierre Speciales. Ich erhalte einen Prozentanteil am Verkauf, denn seine Kundschaft mäkelt stets am Verkaufspreis, sodass er nachgeben, rabattieren muss. Obwohl er keineswegs will. Denn er lebt wie ich auf kleinem Fuss. Etwas grösser als meiner, der nur knapp zum Überleben reicht. Mit Ausnahme des Winters, in dem ich mich mit Wasser und einer Baguette, deren Preis staatlich reguliert ist, begnügen muss. In der Saison aber, da kann ich manchmal eine Sause feiern. Mit 6 Austern. Einem Pichet Weissen. Und wenn es eine grosse ist, mit einem Charcuterie Teller, ja und zwei Baguettes, sodass mir der Magen dann beinahe platzt. Und das Alles bei Lobo, dem Wirt des Hinterhofs am Ufer des Ozeans. Ein netter Kerl. Durchaus. Auch wenn er mich in der Saison Basse nicht kennt. Nicht kennen will. Spielt aber keine Rolle. Denn, da ist sein Lokal geschlossen.
Ja, heute ist der letzte Tag seiner
Öffnung. Morgen verriegelt er seinen Laden. Mit Brettern. Mit dem
freundlichen Text 'Au revoir im April". Und es ist erst Oktober. Die
Mangelzeit steht bevor. Nicht Lobo's. Denn er hat gut verdient. Aber
meine. Nun, ich muss mich da rein schicken. Was bleibt mir anderes
übrig. Auch wenn die Flut jetzt die wundervollsten Muscheln und Steine
anschwemmt. "Keine Abnehmer", bemerkt mein Freund. Bring das Zeug im
April wieder. Wie soll ich bis dann mein Leben fristen? Bestelle noch
ein Pichet vom billigen Weißen. Und 6 Austern. Die nächste Sause liegt
so fern. So fern wie Saturn von der Erde. Lass es mir schmecken. Da
kommt ein Stammgast des Lokals, den ich nur flüchtig kenne, seinen
struppigen Bart mir entgegen wehend, an meinen Tisch. Sieht mir tief in
die Augen. Wirft sein Fischernetz über mein Haupt. Ich zapple wie ein
Wilder.
"Bist mir ins Netz gegangen! Hast in der Lotterie den Haupttreffer
gewonnen. Habe für mich in deinem Namen getippt, da ich absolutes
Spielverbot durch meine Gattin verordnet bekam. Erhältst von mir freie
Kost und Logis in der nächsten Saison. Verplemperst sonst ja nur den
Gewinn. Sag ja, dann befreie ich dich. Sonst ab ins Meer mit dir.
Niemand wird dich vermissen. Kannst bei Deinem Sammelgut still
verrotten. Und ich weise nach, dass ich dein Erbe bin. Ein gefälschtes
Testament für mich ein Kinderspiel. Also einverstanden? Musst mit mir
nur zur Bank gehen damit ich ein Konto auf deinen Namen einrichten kann.
Dann fließt die Flut und Du wirst keinen Hunger mehr zu leiden haben."
Ins Netz gegangen, im Netz gehangen, denke ich. Nehme aus meiner Poetentasche mein Tintenfässlein, mit dem ich meiner Füllfeder immer erneut Leben einhauche, spritze die Tinte in Richtung meines Peinigers. Nicht umsonst liebe ich den Ozean. Habe von den Oktopussen gelernt. Dunkel wird es um mich. Um das Netz. Befreie mich. Stülpe es dem Werfer, der blind mit seinen Armen um sich schlägt, über sein Haupt. Nehme den Lotterieschein aus seiner linken Jackentasche, verspreche ihm lebenslang täglich Brot. Und Wasser. Kein Meerwasser, das wäre mir zu schade. Nein, Süßwasser, denn nicht wahr, Rache ist süß, besonders wenn diese im Dienste der Gerechtigkeit erfolgt.